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Wir bestimmen die Welt, in der wir leben und nur wir können das verhindern

Es liegt Schnee auf dem Gelände der Gedenkstätte. Eine dicke, weiße Schicht, die den Boden überdeckt, auf dem Tausende Menschen um ihr Leben gekommen sind und bis zu ihrem Tod geschuftet und gelitten haben. Es ist nur schwer vorstellbar, was hier vor Jahrzehnten geschah, da der Schnee den Ort so unberührt und friedlich erscheinen lässt.

Wir betreten eine Kinderbaracke. Übereinander gestapelte Etagenbetten wie in einem heruntergekommenen Vorratsraum liegen vor uns. Der Boden der Betten besteht aus teilweise weit voneinander entfernt angebrachten Holzlatten, die Kindern wohl kaum einem festen Boden unter den schlafenden Körpern bescheren konnten, insbesondere wenn diese wenig Nahrung zur Verfügung gestellt bekamen und abgemagert waren. Wir erfahren, dass die Kinder mit Stroh gefüllte Säcke zum Schlafen bekamen und so viele Kinder in den Betten schliefen, dass der Platz nicht ausreichen konnte.

Ich höre die Worte der Zeitzeugin und kann sie nahezu sehen, wie sie als kleines Mädchen in diesen Örtlichkeiten festgehalten wird. "Es gab keine Freundschaften, keine Solidarität", höre ich sie sagen und sehe vor mir, wie Kinder, denen ihre Kindheit genommen wurde, neben anderen Kindern liegen, die sie zu einer Hälfte fürchten und zur anderen Hälfte verachten. Kinder, die spielend den Weg in ihr Leben finden sollten und nun Konkurrenten im Überlebenskampf sind. Die die Essensreste der SS- Männer vorgesetzt bekommen und sich um Essen prügeln, was sich ein Jugendlicher in unserer heutigen Konsumgesellschaft kaum richtig vorstellen kann. "Ohne das Essen, das meine Mutter mir zusätzlich brachte, hätte ich nicht überlebt", klingen die Worte der Zeitzeugin in meinen Ohren. Wie viele Kinder sterben mussten, die nicht wussten wofür sie an diesem kalten Ort bestraft werden, die dieses Privileg nicht hatten, möchte man sich gar nicht vorstellen. Doch diese Art der Verdrängung ist nicht richtig, das weiß ich, denn die Menschen die hier starben waren nicht nur eine Zahl, sie waren ein Individuum- voll von Wünschen, Träumen, Sehnsüchten, die für den Großteil der Insassen niemals in Erfüllung gehen würden. Doch würden sie es, wenn sie überlebten? Oder waren die seelischen Schäden zu groß, das Gesehene zu stark und das Erlebte zu fürchterlich? Kann ein Mensch, der an diesem Ort war, jemals wieder ein schönes, selbsterfülltes Leben führen? War es einfacher für diejenigen, die in ihrer Kindheit hier waren. Selbst wenn sie verdrängen konnten - konnten sie auch vergessen? Ist nicht immer eine große Narbe da, die einfach nicht verschwinden möchte, egal wie sehr man sie pflegt und verdammt?

"Ein Arzt, der Todesengel, kam oft zu uns, um sich Kinder für seine Experimente auszusuchen. Wir ver-steckten uns, doch er fand uns - immer", so die Zeitzeugin, als sie sich an die Experimente des Mannes erinnerte, der nie recht bestraft wurde für das, was er mit hunderten Menschen machte. Wir erfahren, dass er mit Spritzen in die Augen der Kinder versuchte, die Augenfarbe zu verändern, woraufhin Kinder erblindeten und ein Teil der anderen gewiss ebenfalls längerfristigen Schäden davontrug. Er nahm den Kindern Blut ab und versetzte es teilweise mit Salzsäre, sodass die Haut durchsichtig wurde. Experimente, die heute hoffentlich selbst bei den kleinsten Tieren nicht mehr durchgeführt werden. Experimente, deren Folgen ungewiss aber für die Ausführenden auch gleichgültig waren. "Wenn einer von uns schrie oder weinte, kam die Aufseherin und schlug uns, bis wir schwiegen" erinnere ich mich an die Worte der Zeitzeugin. Weinen ist eine Art der gesunden Seelenreinigung habe ich gelesen, davon kann man an diesem Ort doch gar nicht genug betreiben, denke ich mir. Doch selbst das, dieses menschliche und niemandem schadende Bedürfnis wird den Menschen hier verwehrt.

Wir sehen die Toiletten des Lagers. Wer sich im Schullandheim über die Gruppentoilettenräume ärgerte und sich vor ihnen ekelte, dem können sie nach diesem Anblick nur noch als hygienische, traumhafte Oase der Entspannung erscheinen. In dem Lager sitzen die Menschen so nah beieinander, dass ihre Körper sich versehentlich berühren können. Jederzeit von jeder Seite und Jedermann können sie beobachtet werden, von Hygiene oder Privatsphäre keine Spur.

Man muss bedenken, dass es nicht immer so kalt an diesem Ort war. Auch wenn man sich gerade kaum vorstellen kann, dass es hier wieder warm werden kann, während die Füße so vor sich hin frosten, muss ich daran denken, dass es den Menschen, die im Gegensatz zu mir viel länger hier waren als nur ein paar Stunden, genauso ging. Und sie hatten nicht einmal die Möglichkeit sich entsprechend auszustatten, während ich einfach wärmere Schuhe hätte einpacken können.

Doch es wurde natürlich auch hier wärmer, der Sommer kam, und das Ungeziefer kam mit ihm. Die Sanitäranlagen waren vermutlich ein einziges Surren und Stechen. Die Betten voll von Insekten, die das wenige Schlafen, das sich zwischen den fremden Menschen und mangelhaften Holzlatten in eine Plage verwandelten. Stiche, Jucken, Wunden, Entzündungen, Krankheiten, Ekel und Schmerz waren gewiss die ungewünschten Begleiter des Alltags an diesem respekteinflößenden Ort, der so wie er jetzt gerade ist, nicht ansatzweise das wiederspiegeln kann, was sich hier einmal abspielte.

Ich denke, uns Stadtkindern, die gut und gerne Shoppen gehen und sich beklagen, dass das Lieblingsessen wider Erwarten nicht vorbereitet wurde, ist es wirklich nicht recht möglich, sich vorzustellen, was die Menschen hier tatsächlich fühlten. Das Desinfektionsmittel in der Handtasche vieler Frauen ist heute zu einem ganz selbstverständlichen Begleiter geworden, und das, obwohl vermutlich alle öffentlichen Verkehrsmittel und Toiletten im Gegensatz zu den früher hier herrschenden Zuständen der reinste Wohnfühlort sind.

Die Stacheldrahtzäune und Holzbaracken zeugen von etwas Vergangenem, Unvorstellbarem. Einer Massenvernichtung unschuldiger Menschen, durch andere Menschen, die sich einbildeten, es sei richtig und sie hätten ein Recht dazu, über andere zu richten. Angeliefert in Zugwagons, gestapelt wie ein Überflussprodukt, behandelt wie Ungeziefer, obwohl vermutlich mehr Ungeziefer diesen Ort überlebte als Menschen, die hier gequält wurden.

Wir laufen durch die "Sauna" und den Ort, an dem die "Häftlinge" tätowiert und ihrer Haare und Klei-dung entledigt wurden. War es genau hier, wo die Zeitzeugin als junges Mädchen langlief und die Nummer unter die Haut ihres Unterarms geschrieben bekam, die sie seither ihr ganzes Leben begleitet hat? Die Nummer, die ein Teil von ihr wurde und doch eine immerwährende Erinnerung an ihre verlorene Kindheit und ihr verlorenes, damaliges Leben darstellt? Durch diese frühkindliche Erfahrung ist ihr Leben so anders verlaufen, als es ursprünglich hätte verlaufen sollen. Sie wuchs in einem anderen Land auf, bei Pflegeeltern, mit einem anderen Verhalten, einer anderen Lebenseinstellung uns sogar einem anderen Namen. Für sie veränderte sich alles, doch sie scheint nicht nur körperlich, sondern auch geistig voll und ganz überlebt zu haben und zu einer starken Frau geworden zu sein, die nun über ihre Erlebnisse spricht. Sie wünscht sich, dass sich so etwas nie wiederholt und appelliert an alle, das Gehörte und Gesehene zu verbreiten, um einen Teil zu der Prävention beizutragen. Wer sich nur ansatzweise vorstellen kann, wie es hier einmal zugegangen ist, der kann so etwas nicht wollen, davon bin ich überzeugt.

Nichts kann wiedergutmachen, was damals geschah. Keine Reperationszahlungen der Welt können ein Individuum ersetzen und auch die wenigen Menschen die den Ort wieder verlassen konnten, werden wohl immer einen Teil von dem Erlebten in sich tragen. Ich finde auch nicht, dass es eine Rechtfertigung dafür gibt, jemanden wegen seines Aussehens, seiner Überzeugung, seiner körperlichen Einschränkungen oder sonstigem zu quälen oder zu töten. So etwas sollte kein Mensch jemals wieder zulassen. Jeder Mensch kann ein Schritt in die richtige Richtung sein und großes bewirken und genau darum sollte man zu einer friedlichen Welt beitragen, in der jeder das Leben führen kann, das ihn glücklich macht, ohne anderen zu schaden und sie in dem zu beeinflussen was sie machen. Dass nicht jeder Mensch gleich aussieht und gleich denkt, ist etwas Gutes, schließlich wird ein Bild mit vielen Farben und Mustern doch oftmals erst zu etwas ganz Wunderschönem und Einzigartigem.

Luisa, 2018